Leseprobe

Die letzte Fehde an der Havel

von Silke Elzner

Der Schatz

Luckow, Juli 1401

Am fernen Ende des Ackers lag in der Sommersonne ein großer grauer Feldstein. Carl hob seinen schweren Eichenstab und deutete in die Richtung. »Etwa der dort vorn?«

Rudi nickte. »Glaubst du, der lässt sich bewegen?«

»Hiermit bestimmt«, sagte Carl zuversichtlich. »Wirst sehen.«

Rudi rieb sich den Nacken. »Ich grüble schon den ganzen Tag drüber nach, aber ich verstehe immer noch nicht, wie eine Holzstange uns helfen soll. Ich habe alles probiert. Nichts hat funktioniert!«

»Hast du was zu verlieren?«

Rudi zuckte mit den Schultern. »Nur einen Nachmittag.«

Die beiden Freunde machten sich auf zum Ackerrain. Der Stein war ungefähr so groß wie ein Schwein. Carl nahm Maß und setzte seine Stange an. Das eine Ende bohrte er direkt neben dem Brocken in die trockene Erde. Das andere klemmte er sich unter die Achseln. Bevor es losging, spuckte er in seine Handflächen und rieb sie aneinander. Rudi, die Fäuste an den Hüften, schaute skeptisch zu.

Guten Mutes umgriff Carl den Stab mit beiden Händen und drückte auf das obere Ende. Wie erhofft verkeilte sich der untere Teil unter dem Stein. Er presste die Zähne aufeinander und arbeitete mit voller Kraft gegen den Widerstand an.

Zunächst passierte nichts. Rudi kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, Carl ächzte vor Anstrengung. Dann geschah das Wunder: Der Hebel hob den Stein ein winziges Stück an. Rudi jubelte. »Es funktioniert, Carl! Es funktioniert! Wenn du wüsstest, wie lange ich schon versuche, diesen verfluchten Brocken von der Stelle zu bewegen. Jetzt nur nicht aufgeben!«

Davon ermuntert legte Carl einen Zahn zu. Die beachtlichen Muskeln in seinen bloßen Armen spannten sich an. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er stemmte den Stab kräftig nach unten, sodass seine Füße kurzzeitig den Boden verließen. Der Stein hob sich ein weiteres Stück.

»Gleich haben wir’s!«, rief Rudi.

Carl gab alles. Doch das Ende des Steckens drückte sich nur immer tiefer in die sandige Erde. Der Hebel verlor seine Wirkung, und der unliebsame Feldstein kugelte zurück in seine angestammte Position.

Mit einem Stöhnen ließ Carl von seinem Vorhaben ab.

»Warum hörst du auf? Das klappt! Du konntest den Stein an einer Seite anheben!«

Carl rieb sich die schmerzenden Handflächen. »Die Erde gibt nach.« Er sah sich suchend um. »Wir brauchen eine festere Unterlage.«

»Du meinst einen flachen Stein?«

»Ja, so etwas in der Art.«

Wie Störche staksten sie durch das struppige Gras der brachen Fläche, auf der Suche nach etwas Brauchbarem. Im Dickicht, das den Acker umgrenzte, wurde Rudi schließlich fündig. Er zeigte auf einen flachen, großen Stein, beinah eine Steinplatte. »Ist dieser hier gut?«

Carl eilte an seine Seite. »Könnte funktionieren. Aber diesmal hilfst du mit, statt nur zu gaffen.«

»In Ordnung.«

Sie bargen die Steinplatte aus dem Gestrüpp und hievten sie zu ihrem Ziel, wo sie sie vorsichtig ablegten. Nun hatten sie einen deutlichen Widerstand für den Stab. Carl wies Rudi an, in der Mitte zu drücken, er selbst übernahm das lange Ende. Diesmal ging der Plan auf. Mit einem Keuchen hebelten sie den Widersacher aus seinem Bett und kippten ihn hintenüber. Polternd und schwankend kam der Brocken in den Sträuchern auf der anderen Seite zum Liegen. Mit der gleichen Methode rollten sie den schweren Felsen bis zum Waldrand.

Zufrieden schlenderten sie zurück. Rudi war so erleichtert über den Erfolg, dass er ins Plaudern kam. »Du ahnst ja nicht, wie dankbar ich dir für deine Hilfe bin! Das Land wirft immer weniger ab. Ich habe keine andere Wahl, als den Acker zu vergrößern. Dieser verfluchte Stein hätte das Pflügen zur Tortur gemacht!«

Carl hatte unterwegs eine Handvoll Erde aufgenommen. Gedankenverloren ließ er die feinen Körner durch die Faust zu Boden rieseln. »Hoffe, du willst nicht, dass ich dir auch noch dabei helfe.« Er sagte es im Scherz. Einem besten Freund ging man zur Hand. Da fragte man nicht nach, sondern tat es einfach.

Sie waren wieder an der Stelle angelangt, wo zuvor der Stein gelegen hatte. Während Rudi stumm die leere Kuhle betrachtete, ließ Carl den Blick übers Land schweifen. Rudis Hufe erstreckte sich von hier bis zum Dorfrand. Der Freund betrieb eine Dreifelderwirtschaft, bei der die Frucht gewechselt und jedes Jahr ein anderes Drittel brach gelassen wurde. Es war gängige Praxis. Dennoch gaben die sandigen Böden der Mark schon lange nicht mehr viel her. Die Bauern hatten arge Nöte, am Ende der Ernte genug Korn zurückzulegen, um die Aussaat fürs nächste Jahr zu sichern. Hoffentlich, so dachte Carl bei sich, würde Rudi mit dieser Landgewinnung ein höherer Ertrag beschieden sein. Nicht auszudenken, müssten er und seine Schwester Anne im Winter Hunger leiden.

»Lass uns gleich morgen mit dem Roden und Unkrautjäten beginnen. Dann kannst du im September die Wintergerste aussäen«, schlug er vor.

Doch Rudi erwiderte nichts. Er starrte auf die Stelle, an der zuvor der Stein gelegen hatte.

Über ihren Köpfen erklang ein lang gezogenes Kreischen. Carl beschattete die Augen mit der Hand und schaute nach oben. Ein Schreiadler beschrieb am blauen Himmel mit majestätischen Schlägen seine Kreise. Dicke Schäfchenwolken trieben lustlos vorbei. Sie verhießen Regen. Vielleicht würde das Wetter kippen.

Rudi bohrte neben ihm mit dem großen Zeh in der gelösten Erde herum. »Was ist denn das?« Ein seltsamer Gegenstand blitzte aus dem Dreck hervor.

Carl runzelte die Stirn. Er nahm den Eichenstab zur Hand und stieß das Ende ins Loch. Da war ein unerwarteter Widerstand. »Da ist etwas.«

Rudi stöhnte auf. »Oh nein! Bitte, Herr Jesus! Jetzt sag nicht, dass in der Brache noch mehr Felsbrocken liegen!« Er fiel auf die Knie, um in der ausgedörrten Erde zu graben. Immer mehr von dem rätselhaften Objekt trat zutage. Verdutzt hielt er inne und schaute auf. »Das ist kein Stein.«

Carl ging neben ihm in die Hocke, um genauer nachzusehen. Was Rudi freigegraben hatte, war weder ein Stein noch eine Wurzel. Vielmehr sah es aus wie von Menschenhand geschaffen. »Was zum Teufel ist das?«

Rudi strich mit seinen schwieligen Fingerkuppen über die raue Oberfläche und wischte ein paar Erdkrümel weg. »Fühlt sich an wie Leder. Komm, lass es uns ganz herausholen.«

Sie gruben weiter. Als die Erde fester wurde, nahm Carl seinen Stecken zu Hilfe.

Ein verwitterter Beutel kam zum Vorschein, so groß wie ein Kohlkopf. Rudi zerrte an einer Lederschnur und riss ihn auf. Was sie fanden, raubte ihnen für einen Moment den Atem. Sie wechselten einen verblüfften Blick.

Carl griff als Erster zu. »Was ist denn das?« Er nahm einen kreisrunden Gegenstand heraus und drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war eine Münze.

»Es ist Geld! Richtig viel. Schau, der ganze Sack ist voll!« Rudis Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung. Er holte weitere Geldstücke hervor und legte sie ordentlich auf seiner Handfläche nebeneinander. Sie sahen alle gleich aus.

Mit einem breiten Grinsen blickten sie sich an. Das musste ein Vermögen sein!

Carl ließ sich auf den Hosenboden fallen. »Du hast einen echten Schatz gefunden, Rudi!«

Im warmen Licht der Nachmittagssonne rollte und wendete er das kostbare Stück Metall in seiner Hand. Er hielt die Münze hoch, um sie genauer zu inspizieren. Auf der einen Seite konnte er eine Krone ausmachen, die von zwei Ringen mit Schriftzeichen umgeben war, auf der anderen prangte ein Löwe.

»Du und ich, wir haben den Schatz zusammen gefunden, Carl!«, rief Rudi. »Ob der wohl viel wert ist?«

Carl rieb mit dem Daumen über die Oberfläche. Unter dem Dreck glänzte silbrig das Metall. »Glaube, ja.«

»Dann sind wir reich! Reich!«

Carls Mundwinkel zuckten. »Du bist ein gemachter Mann, Rudi.«

Rudi schaute sehnsüchtig gen Himmel. »Oh, ich werde mir das größte Haus im Dorf bauen! Und ich werde mir einen zweiten Ochsen für den Pflug besorgen. Und wenn was übrig bleibt, kaufe ich meiner Schwester ein neues Kleid.«

Das Geschwisterpaar war Pächter eines eigenen Hofs mit Gesinde, Vieh und Gerät. Ihre Eltern waren im vorigen Sommer kurz nacheinander an der Pest gestorben. Rudi, obgleich erst achtzehn und somit zwei Jahre älter als Carl, hatte als Erbe den Hof vom Grafen übertragen bekommen.

Carl grübelte darüber nach, was er mit seinem Anteil an diesem Vermögen anstellen würde. Seine Situation war anders. Im Gegensatz zu Rudi und Anne beschränkte sich sein persönlicher Besitz im Großen und Ganzen auf das, was er am Leib trug. Sein Vater erfreute sich bester Gesundheit, ebenso wie seine Mutter, und es gab einen älteren Bruder. Es war Frank, der eines Tages den Großteil des Erbes erhalten würde, nicht Carl. Jener würde sich seinen Hausstand aus eigener Kraft erarbeiten müssen.

Ihm kam eine aufregende Idee. Mit diesem Fund könnte er sich einen Hof pachten! All seine Probleme wären auf einen Schlag gelöst. Er müsste niemandem mehr auf der Tasche liegen und würde sein eigener Herr sein. Und dann …

Rudi riss ihn aus den sehnsüchtigen Gedanken. »Das wird uns keiner glauben«, sagte er düster. Sein Gesicht war mit einem Mal umwölkt.

Carl seufzte auf. Sein Freund hatte recht, wie immer. »Sie werden behaupten, wir hätten es gestohlen.«

»Ganz genau, Carl!«, rief Rudi. »Kein Bauer im Dorf hat Silbermünzen in seinem Besitz. Und wir hätten plötzlich …« Er steckte seine Hand in den Sack und ließ die Geldstücke darin klimpern, bis er sich offenbar eingestehen musste, dass seine Rechenkünste bei Weitem nicht ausreichten, um den Umfang ihres Fundes einzuschätzen. »Unzählige davon! Keiner würde uns etwas dafür geben.«

»Wir sind Bauern, keine Edelleute«, stimmte Carl widerwillig zu.

»Besagt nicht ein Gesetz, dass alle Schätze, die tiefer als die Pflugschar liegen, dem König gehören? Ich meine mich zu erinnern, so was mal gehört zu haben.«

Bleierne Enttäuschung machte sich in Carl breit. »Würde man uns niemals glauben, dass das Geld einfach nur unter einem Stein lag. Es wäre nicht zu beweisen.«

Mit einem Klimpern landeten Rudis Münzen wieder im Beutel. »Wir sollten es einpacken und verstecken. Es soll unser Geheimnis sein, von Freund zu Freund.«

Carl legte sein Geldstück ebenfalls wieder in den Sack.

Rudi band die Kordel sorgfältig zu. »Komm, wir wollen ihn woanders vergraben, damit ihn nicht doch eines Tages der Pflug zerreißt.« Er richtete sich auf und sah sich um. »Ich weiß! Lass uns das Säckchen zum Stein bringen! Dann liegt es am neuen Ackerrain und nicht mittendrin.«

Schweigend gruben sie den Schatz, der so unendlich viel verheißen hatte, im Schutz des Steines wieder ein.

Als sie damit fertig waren, klopfte sich Rudi den Staub von Händen und Kittel. Er grinste. »Zu wissen, dass dieser Reichtum auf meiner Scholle liegt, wird mich abends froh zu Bett gehen lassen.«

»Wieso denn das?«, fragte Carl.

»Es gibt mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Kein anderer Bauer kann von sich behaupten, dass er im Besitz eines solchen Schatzes ist. Doch von nun an wollen wir darüber schweigen. Auch Anne soll nichts erfahren. Sie würde sich nur unnötig Sorgen machen.«

Carl brummte. Er musste sich eingestehen, dass Rudis Entscheidung vernünftig war. Sie konnten mit dem Schatz nichts anfangen. Im Gegenteil. Ein solcher Fund würde eine Menge gefährliche Fragen aufwerfen. Es war sicherer, ihn wieder der Erde zurückzugeben. »Denkst du, wir hätten es dem Grafen melden sollen?«

»Sprich keinen Unsinn, Carl! Vergiss, dass der Schatz existiert! Es hat ihn nie gegeben, in Ordnung? So, und nun komm!

Wir wollen das Werkzeug zurückbringen und für heute Feierabend machen.«

Ein wenig geknickt und mittellos wie zuvor kehrten sie nach Hause zurück.

Raubritter in der Mark Brandenburg

Die letzte Fehde an der Havel

»Was weißt du denn von der Welt, Bauer? Was gerecht ist und was nicht, das bestimme immer noch ich!«
Als Carls Dorf von Dietrich von Quitzow überfallen wird, gerät sein Leben aus den Fugen: Der Raubritter schändet Carls Jugendliebe, und er selbst wird als Geisel verschleppt. Für Carl beginnt ein neues Leben als Waffenknecht auf Burg Kletzke, doch in ihm wächst ein unstillbarer Wunsch nach Rache. Als sich mit Friedrich von Hohenzollern ein neuer Landesherr ankündigt, sieht Carl die Chance gekommen, sich für all das Leid zu revanchieren …

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