Leseprobe „Der Trug des Pilgers“
von Silke Elzner
Kapitel 1
1348
Seit Tagen regnete es unaufhörlich. Rüdiger hielt Wache vor dem Haupttor und blickte missmutig über den Platz. Der Vorhof der Burg hatte sich in eine trübe, schlammige Moorlandschaft verwandelt, und der Geruch von Moder und Moos hing schwer in der Luft. Er fühlte sich, als wäre er der letzte Mensch auf Erden. Die Stallknechte hatten am Morgen nur das Nötigste erledigt und sich dann in die Ställe zurückgezogen. Auch das Brauhaus lag verlassen, als würde heute niemand dort arbeiten. Sogar die Hühner, die sonst frei herumstreunten, hatten Schutz gesucht.
Insgeheim wünschte er sich weit fort. Wolmirstedt war nicht mehr als ein verschlafenes Nest mit einer erzbischöflichen Burg. Er sehnte sich nach den Straßen Magdeburgs, die selbst an Regentagen voller Leben waren – die farbenfrohen Märkte, die prächtigen Kirchen und die hübschen Frauen. Ja, vor allem die hübschen Frauen fehlten ihm.
Leider hatte sein Dienstherr, Erzbischof Otto, beschlossen, eine Weile auf dem Land zu verbringen, und Rüdiger als dessen Dienstmann hatte sich zu fügen. »Vielleicht ist es ja nicht mehr lange«, redete er sich ein.
Eine Bewegung am anderen Ende des Hofs erregte seine Aufmerksamkeit. Das Tor zur Straße stand weit offen und war unbewacht. Eine Figur schälte sich aus dem Grau des Regens heraus. Vielleicht ein Hund? Rüdiger blinzelte angestrengt, aber nein, das war kein Hund. Die Gestalt war größer, aufrecht – ein Mensch.
Ein Geißler, dachte er mit Abscheu.
Er verachtete diese selbsternannten Büßer, die über das Land zogen und sich öffentlich mit Peitschen die Rücken blutig schlugen. Als ob man damit Gottes Gnade erzwingen könnte! Was für Narren! Er wusste es besser, hatte den Worten des Erzbischofs gelauscht. Man kaufte Ablässe, um in den Himmel zu kommen. Schriftstücke der Kirche, die die Sünden erließen. Je mehr man zahlte, desto wirksamer. Rüdiger legte jeden Monat etwas von seinem Sold beiseite. Wer wollte nicht sicherstellen, dass er in den Himmel kam?
Er wischte sich den Regen aus den Augen, und die Gestalt wurde deutlicher. Der Fremde stützte sich gegen den steinernen Bogen der Tordurchfahrt und blickte in den Himmel. Der Mann war in einen langen Umhang gehüllt, nicht nackt. Auch vollführte er keine typischen schwungvollen Bewegungen. Kein Geißler.
Der Fremde stieß sich ab und schlurfte auf das Haupttor zu.
Rüdiger zuckte zusammen. Die Pest! Was, wenn es ein Kranker war? Schleppend genug bewegte er sich ja! Sein Blick wanderte zu Mathias, der neben ihm so mucksmäuschenstill Wache stand, dass Rüdiger seine Anwesenheit oft vergaß. Das Großväterchen schlief mit offenen Augen, bemerkte nicht einmal, wie ihm der Regen über den Schnauzbart lief. Rüdiger, der sich keine Nachlässigkeit nachsagen lassen wollte, machte sich bereit.
Der Fremde kam näher, stützte sich auf einen Wanderstab, der ihm auf dem rutschigen Boden offenbar gute Dienste leistete. Jetzt sah Rüdiger, dass acht Kinder hinter ihm in den Hof geschlüpft waren, die Schultern schmal und spitz, die Glieder wie Reisig, die Füße nackt. Es waren Dorfkinder; er kannte sie alle beim Namen. Wie eine Reihe Entenküken trotteten sie hinter dem Fremden her und nahmen dabei jede Pfütze mit.
Es war ein hartes Jahr gewesen, und am härtesten hatte es die Bauern samt ihren Familien getroffen. Erst das schlechte Wetter, dann die Missernten, jetzt die Pest.
Rüdiger rammte Mathias das Ende seines Spießes auf die Zehen. Der Alte zuckte zusammen. »Was? Wie?«
Rüdiger seufzte auf. Mathias war mit seinen fünfzig Jahren zu alt für diese Aufgabe. Der Erzbischof hätte ihn längst in den Ruhestand schicken sollen.
»Ein Besucher!«, rief Mathias erfreut, als er die Gestalt im Hof erblickte.
»Überlass das mir«, sagte Rüdiger und trat in den Regen hinaus. Der Helm auf seinem Kopf dröhnte unter den Tropfen. »Keinen Schritt weiter!«
Die Gestalt blieb stehen. Jetzt sah Rüdiger den Fremden genauer: ein Pilger, alt und erschöpft, der wohl eine weite Reise hinter sich hatte.
Der Greis klemmte sich den Wanderstab unter die Achsel und hob beide Hände zu einer unterwürfigen Geste. »Bitte, dürfte ich wohl den ehrwürdigen Erzbischof sprechen, mein Herr?«
Rüdiger grummelte. Ein Pilger hatte das Recht, um eine Audienz zu bitten, zum Beispiel, um sich den Segen für die lange Reise einzuholen. Zumindest in gewöhnlichen Zeiten. Doch dies waren keine gewöhnlichen Zeiten. »Der Erzbischof empfängt keine Besucher.«
»Aber wieso nicht, mein Herr?«
»Die Pest hat das Land fest im Griff.«
»Oh«, sagte der Pilger, so als wäre diese Tatsache für ihn neu, als hätte er auf seiner Wallfahrt nicht die verlassenen Dörfer und frischen Gräber gesehen. »Auch keine Pilger?«
»Natürlich auch keine Pilger. Wer weiß, ob du nicht die Krankheit in dir trägst?«
Die Kinder, die sich in einem Halbkreis aufgestellt hatten, beobachteten alles neugierig.
»Ich bin nicht krank, Herr. Befühlt meine Stirn!«
Befühlt meine Stirn … Rüdiger verzog den Mund. Allein der Gedanke widerte ihn an. »Ganz bestimmt nicht. Komm ein andermal wieder.«
»Und wann?«
»Das weiß Gott allein.«
Die Augen des Pilgers glitten von Rüdiger zu seinem Kameraden, der immerhin einen finsteren Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte.
»Frag nach Almosen, alter Mann!«, rief eines der Kinder, ein vorlauter Knabe, der die anderen um einen Kopf überragte.
»Und gib uns etwas ab«, fügte ein Mädchen hinzu.
»Es gibt keine Almosen!«, schnauzte Rüdiger. »Und jetzt verzieht euch!«
Die Kinder rührten sich nicht.
Der Pilger neigte das Haupt und sagte: »Bitte, mein Herr. Ich will dem Erzbischof nichts Böses. Es geht um das Seelenheil eines bedeutenden Mannes.«
Rüdiger sah, wie Mathias mit sich zu ringen schien. Bevor er etwas Unüberlegtes sagen konnte, kam Rüdiger ihm schnell zuvor. »Ich sagte, der Erzbischof empfängt keine Besucher. Und nun hau endlich ab!«
Eines der Mädchen begann zu weinen.
Der Pilger fixierte Rüdiger mit einem durchdringenden Blick. Seine Augen hatten eine ungewöhnliche Farbe. Grünblau. Fast wie Buchenlaub. Es erinnerte ihn an den Baum hinter seinem Elternhaus. Viele Sommer hatte er dort verbracht, mit seiner kleinen Schwester hatte er Bänder an die Zweige gebunden – für die Feen.
Er seufzte auf. Mitleid stieg in ihm auf, doch in seiner Position konnte er sich keine Schwäche erlauben. Eilig schob er die Erinnerungen beiseite und sagte: »Wenn du dich nicht gleich davonmachst, wende ich Gewalt an.«
»Ich verstehe«, erwiderte der Pilger und senkte das Haupt, sodass die dicken Tropfen, die sich auf der breiten Krempe seines Hutes gesammelt hatten, in einem Rutsch nach unten fielen. »Ich werde gehen.«
Rüdiger erlaubte es sich, aufzuatmen. Er stellte den Spieß aufrecht.
»Doch bitte, bei allem, was Euch lieb und teuer ist«, fuhr der Pilger unvermittelt fort. »Gewährt mir einen letzten Wunsch.«
»Und der wäre?«, fragte Mathias, bevor Rüdiger reagieren konnte.
Er fluchte in sich hinein. Am liebsten hätte er seinem Kameraden das stumpfe Ende des Spießes sonst wohin gerammt.
»Mein Weg war weit, und nun muss ich zurück. Bitte, gebt Ihr mir einen Labtrunk?«
Rüdiger war im Begriff, das Ansinnen auszuschlagen, da drehte sich Mathias um und schlurfte davon. Er kehrte mit einem Tonbecher zurück.
»He, du Dummkopf! Wir sollen Abstand halten!«, rief Rüdiger.
»Er ist ein alter Mann. Ich gebe ihm nur einen Schluck Wasser.« Mathias reichte dem Besucher den Becher. »Hier, erfrischt Euch. Mir scheint’s, die Jugend kennt keine Barmherzigkeit mehr.«
Mit zittrigen Händen begann der Pilger zu schlürfen. Die Kinder, die erkannt hatten, dass es auch heute nichts am Tor des Erzbischofs zu holen gab, zerstreuten sich.
Mit einem ungeduldigen Schnalzen schaute Rüdiger zu, wie der Greis den Trank leerte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er den Becher mit einem Seufzen absetzte, sich mit dem Ärmel über den weißen Bart wischte und den Wachleuten mit gesenktem Haupt das Gefäß hinhielt.
»Na los, worauf wartest du? Nun nimm schon!« Mit einem Stoß gegen die Schulter bedeutete er Mathias, den Becher entgegenzunehmen.
Mathias nahm dem Greis den Becher ab. Beim Schwung der Bewegung hörten sie beide plötzlich ein lautes Klackern aus dem Inneren. Die Wachleute wechselten verdutzte Blicke.
»Was ist? Hat der Alte etwa einen Zahn verloren?«, fragte Rüdiger.
Mathias schüttelte den Kopf.
»Oder hast du ihm einen Becher gegeben, in dem schon etwas drin war? Mensch, Mathias, ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, du sollst deine gottverfluchten Würfel woanders aufbewahren!«
»Kein Würfel«, murmelte Mathias. Er schüttelte den Becher erneut, und wieder klackerte es.
Rüdiger starrte das Gefäß an. War dies ein Trug? Er hatte nicht bemerkt, wie der Greis etwas in den Becher fallen ließ.
So etwas war ihm noch nie zuvor passiert. Er bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn es ein Anschlag auf den Erzbischof war? Feinde genug hatte dieser ja! Herrje, wie sollte er nun angemessen reagieren? Der kalte Schweiß brach ihm aus. Insgeheim verfluchte er Mathias, der dem Fremden so leichtfertig Wasser gegeben hatte. Gewiss, der Greis trug Pilgerkleidung, aber das bewies nichts. Jeder Hofnarr konnte sich als Pilger ausgeben!
Mathias und der alte Mann starrten Rüdiger schweigend an. Seufzend nahm er all seinen Mut zusammen und reckte den Hals, um über die Entfernung hinweg in die Dunkelheit des Bechers zu schielen. Der Gegenstand im Inneren war eindeutig größer als ein Zahn, und er war glänzend wie ein Kleinod.
Mit langen Fingern fischte er das Objekt heraus und drehte es im trüben Licht. Es war kühl, glatt und, angesichts seiner geringen Größe, recht schwer. Ein Ring, gefertigt aus Gold, zweifellos. Ihm stockte der Atem. Gold? Wie kam so ein stinkender, zerlumpter Pilger zu Gold?
Er untersuchte den Ring genauer. Es war ein Siegelring. Seltsame Linien waren auf der Platte eingraviert. Eine Art Bild – ein Mann mit einer Fahne, auf der ein Adler zu sehen war. Wie ein Wappen.
Ein Wappen? Er kannte dieses Symbol, doch er konnte es nicht sofort einordnen. Eine Gänsehaut überzog seine Arme. Er hielt Mathias das Schmuckstück hin. »Hast du so was schon mal gesehen?«
»Gebt das Eurem Erzbischof«, sagte der Pilger ruhig. »Glaubt mir, er wird es haben wollen.«
Mathias kratzte sich am Hinterkopf. »Mmh.«
Rüdiger jedoch verstand. Da hol mich doch der Teufel, dachte er und lachte auf. Und ob der Erzbischof das haben will!
Seine Finger schlossen sich um den Ring, der sich auf einmal anfühlte wie ein glühendes Stück Kohle, als würde sich das Siegel in seine Handfläche brennen.
»Warte hier«, sagte er zu dem Pilger. »Ich bin gleich zurück.«
Er küsste seine Faust und rannte los.
– ENDE DER LESEPROBE –
Der Trug des Pilgers
Im Pestjahr 1348
In Magdeburg taucht ein mysteriöser Pilger mit einem alten Siegelring auf. Sofort machen Gerüchte die Runde: Ist er wirklich der totgeglaubte Markgraf Waldemar?
Nicht nur der König, sondern auch andere Fürsten sehen ihre Chance gekommen, alte Rechnungen zu begleichen und den amtierenden Markgrafen zu stürzen – mit dramatischen Folgen für das gesamte Reich.
Was als harmlose Täuschung begann, wird bald tödlicher Ernst.
Erzählt nach wahren Begebenheiten.